Lesetage im ATHINA

von | 3. Aug. 2022 | Partner

Lesetage im ATHINA

 

Wir wagen es. Nachdem wir in den letzten zwei Jahren in Zusammenarbeit mit dem Kulturwerk deutscher Schriftsteller Sachsen-Anhalt e.V. einige gut besuchte Lesungen veranstaltet haben, gibt es nun die Lesetage im ATHINA. Dabei möchten wir verschiedene Altersgruppen ansprechen.

Am Mittwoch, dem 31.08.2022 wird Dorothea Iser im Rahmen des Erzählcafés ihre Erzählungen aus dem Harz vorstellen. Beginn ist 15.30 Uhr, Einlass 15.00 Uhr. Es gibt wie immer Kaffee, Tee und Gebäck gegen Spende.

Dorothea Iser liest aus ihrem Band „Pink ohne Ende“ eine gekürzte Erzählung vor, die nach dem Krieg in einem kleinen Harzdorf spielt.

Ein Lehrer, der neu ins Dorf kommt, begegnet der Witwe des Dorfschullehrers, der für sich nach der Kapitulation Deutschlands keinen Ausweg mehr sah und sein Leben beendete.

Aber die Menschen wollen leben. Die Kinder brauchen gute Lehrer.

Eine neue Zeit, viele Probleme, die zu Entscheidungen herausfordern.

Frau Iser, die selbst im Harz lebt, möchte mit den Gästen ins Gespräch kommen und einen unterhaltsamen Nachmittag erleben.

Renate Sattler aus Magdeburg hat sich von Kindheit an für die Geschichte der Nordamerikanischen Indianer interessiert und später Verbindungen zu Indigenen geknüpft. Über ihre Reiseerlebnisse in Kanada und den USA hat sie bereits im letzten Jahr bei uns gelesen. Diesmal stellt sie uns ihren Roman „Das Muschelgewand“ vor. Sie verwebt darin auf poetische Art die jahrhundertealte Geschichte der Naturvölker mit unserer Gegenwart.

Ihre Lesung findet am Freitag, dem 02.09. um 18.30 Uhr statt und ist interessant für alle Altersgruppen.

Ein junges Publikum möchten wir ansprechen mit der Lesung des Halleschen Autoren Christian Kreis. Er präsentiert uns sein Werk unter dem Titel: Esel beißen Rentner tot. Geschichten aus der seltsamen Wirklichkeit.

In seiner ironischen Kurzvorstellung heißt es: Christian Kreis hat vieles geschrieben. Leider keine Doktorarbeit, wie seine Mutter immer beklagt, dafür lustige Gedichte über aggressive Esel und tödliche Bakterien in der Ostsee. Darüber hinaus kritische Kolumnen über das Vulvenmalen auf Kirchentagen, über die erotischen Aspekte seiner Großmutter, über die Herkunft von Mehlmotten, über die Verführungskünste von Männern mit Rundrücken, und immer wieder über seine sogenannte katholische Freundin, die trotzdem noch mit ihm zusammen ist.

Es wird also frisch, frivol und humorvoll zugehen. Wir wünschen uns sehr, dass dieses Angebot Interesse bei Jungen und Junggebliebenen findet. Christian Kreis unterhält Sie am Freitag, dem 9. September ab 19.00 Uhr. Wir halten eine kleine Auswahl an Kaltgetränken für Sie bereit.

Wir veranstalten die Lesetage in Kooperation mit dem Kulturwerk deutscher Schriftsteller Sachsen-Anhalt e.V.. Sie werden durch das Land Sachsen-Anhalt und Neustart Kultur gefördert.

Der Eintritt zu allen Veranstaltungen ist frei. Wir erbitten eine Spende für unseren Verein Soziokulturelles Zentrum ATHINA Harzgerode e.V.

Sanddorn und Muschelgewand – ein Rezension

 

Wenn man den Roman „Das Muschelgewand“ von Renate Sattler liest, dann wird bald klar: Nur wer um die Vergangenheit weiß, kann die wichtigen Zusammenhänge in der Welt von heute erkennen. Und wer das Erkannte an andere weitergibt, der muss Wesentliches davon mit eigenen Augen gesehen und mit den eigenen Händen begriffen haben.

Renate Sattler war in den USA und Kanada. Sie hat dort Freunde gefunden, zu denen noch heute „die Silberfäden der E-Mails über den Ozean schweben“ (Renate Sattler). Dieser Austausch, der durch das Lesen umfangreicher Fachliteratur ergänzt wurde, schloss und schließt für die Autorin das Kennenlernen anderer Denkweisen ein, die zeitlos und weltumspannend sind. „Wir glauben, dass alles miteinander verbunden ist. Erde und Himmel, Tiere und Menschen, die Toten und die Lebenden.“ Der das sagt, ist ein Mohawk, deren Kultur in der Lebenswirklichkeit des heutigen Kanadas an den Rand gedrängt wurde.

Aus dieser Konstellation entstanden ist der Roman „Das Muschelgewand“. Knapp 300 im Verlaufe der Handlung immer spannender werdende Seiten, welche den Leser dem Verstehen ein Stück näherbringen und ihn gleichzeitig dazu veranlassen, das Verständnis für viele Dinge zu verweigern, die sich in der auf drei Zeitebenen stattfindenden Handlung zuspitzen.

Diese erstreckt sich von 1607 bis heute. Die Indianer erblickten damals zunächst „Riesenkanus mit Wolken an den Stangen“ und 400 Jahre später betreuen ihre Nachfahren ein kleines Museum, in dem Schüler wissen möchten, ob es dort auch richtige Indianer zu sehen gibt.

Es ist folgerichtig, dass die mit der Kultur der indigenen Völker Nord- und Lateinamerikas vertraute Sattler die Möglichkeiten des Magischen Realismus aufgreift, um Mythologie, Geschichte, Geografie und aktuelle Menschheitsfragen in einer Handlung miteinander verschmelzen zu lassen. Was Márquez in „Hundert Jahre Einsamkeit“ mit der sich über sechs Generationen erstreckenden Familiengeschichte in einem fiktiven Dorf erreicht, das gelingt Sattler, indem sie eine der Hauptfiguren ihres Romans dreimal leben lässt. Zuerst als Wowinchoppunk, Häuptling der Paspahegh im 17. Jahrhundert, als die Engländer die erste Kolonie in Nordamerika gründeten. Das zweite Mal wird er als deutscher Auswanderer August Sommerland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder geboren. In seinem dritten Leben identifiziert sich Martin Baily von den Lenni Lenape (Delawaren) in Pennsylvania mit Wowinchoppunk. In dieser Gestalt legt er mit dem Einbaum auf Rügen in der Bucht von Gottesgnade an und geht auf das Haus am Leuchtturm zu.

Ein Kupferamulett garantiert ihm, dass er immer wieder geboren werden kann. Aber er sagt: „Ein viertes Leben möchte ich nicht. Jedes Mal habe ich Menschen verloren, die ich liebe.“ Eine sich am Schluss des Buches selbsterfüllende Prophezeiung!

Die Hauptperson des Romans aber ist Maline, die mit ihrem Mann ein reetgedecktes Haus unmittelbar neben dem Leuchtturm in Gottesgnade, einem Dorf auf der Ostseeinsel Rügen, bewohnt. Den ersten Teil ihres Lebens verbrachte sie in der DDR und musste an der Erfüllung mancher Wünsche vorbeileben. Doch mit der Veränderung der Verhältnisse wird es für sie nicht besser. Der Leuchtturm lockt Spekulanten an. Nun soll nicht nur ihr seit Generationen in Familienbesitz befindliches Häuschen in „gemeinnützigem“ Interesse enteignet werden. Es geht Saat auf, die wohl schon in den Leuten und den gesellschaftlichen Strukturen auf ein Aufbrechen wartete: Schwächen der Demokratie treten im Gemeindeparlament zutage, „Gottesgnade“ wird zu einem Ort von Drohungen bis hin zu Mord, Solidarität bröckelt, die große Masse schweigt, Teile der Wirtschaft sind mit der Kriminalität verwoben, Nazi- und DDR-Zeit werden auf eine Stufe gestellt, die Polizei kesselt linke Demonstranten ein, geleitet rechte zum Bahnhof… Aber auch Terrorismus wird beim Namen genannt – ausgerechnet im Zusammenhang mit jemandem, der in „Gottesgnade“ Schutz gefunden hatte.

Schlaglichter und Widersprüche aus einer Welt und einer Zeit, in der Kulturen nicht nur miteinander korrespondieren, sondern auch aufeinandertreffen. Angesichts der Tatsache, dass gegen Zuwanderer demonstriert wird, lässt Sattler eine angesehene Kinderärztin sagen: „Es werden zu viele. Wo bleiben wir?“ Ein Junge aus der Klasse ihrer Tochter kann sich nicht sattessen, weil seine Mutter arbeitslos ist und zwei Kinder hat. Und ein Mitschüler, der mit seinen Eltern vor zwei Jahren einwanderte, spricht noch nicht richtig deutsch, „zieht den Unterricht runter“, und seine Eltern fahren Mercedes.

Die Autorin deckt nach ihrem Erzählungsband „Feuer und Polarlicht“ auch in diesem Roman Widersprüche und Zusammenhänge auf, warnt zugleich vor einfachen Schlussfolgerungen z. B aus der Frage: Was wäre geworden, wenn die Indianer damals die Europäer nicht in ihr Land gelassen hätten?

Nach dem Lesen dieses Buches kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass auf dieser Welt wirklich alles miteinander verbunden sein könnte. Das schließt Themen wie Kriege, Umwelt, Religion ein. Und es stellt sich die Frage: „Können Menschen verschiedener Kulturen friedlich miteinander auskommen?“ (Renate Sattler) Fakten aus Geschichte und Gegenwart bieten Anlass, über solch eine wichtige Grundfrage nachzudenken und nach Lösungen zu suchen.

„Damit wir überleben, müssen wir das Kranke im Denken töten!“, lässt die Autorin Wowinchoppunk sagen. Was ist „das Kranke im Denken“? Beispiele gibt es im Buch viele. So lässt Sattler im Zusammenhang mit einem nicht richtig durchdachten Umfunktionieren eines ehemaligen Gutshauses in ein Asylbewerberheim eine Mitarbeiterin der Verwaltung resignieren: „Was kann ich ändern, bin doch nur ein Rädchen im Getriebe.“

Trotz aller Wunden, die Renate Sattler berührt: Ihr Roman ist auch ein Buch voller Poesie und Zauber: Da gibt es die Zwiesprache mit einem erlegten Tier, der Ozean zwischen Amerika und Europa wird nicht nur einmal mit einem Einbaum überquert. Wowinchoppunks Antwort auf Malines Frage beim Skypen, ob er ihren Ruf über die Distanz von tausenden Kilometern gehört habe: „Gehört nicht, aber es war eine Stimme in mir, ein Traumbild …“

Der Volksmund sagt dazu: „Es muss Dinge zwischen Himmel und Erde geben, die da sind, obwohl wir sie uns nicht erklären können.“

Renate Sattler stellt in „Das Muschelgewand“ solche Erscheinungen auf ein Fundament, das „Magischer Realismus“ heißt. Sie führt auf drei Zeitebenen und zwischen zwei Kontinenten Fakten und Fantasien zu einer Handlung zusammen, die aufrüttelnd und poetisch zugleich ist.

Ein einziger Begriff sei als Beispiel genannt: Der Sanddorn. Eigentlich hätte dieses Gewächs aufgrund seiner regelmäßig wiederkehrenden Nennung einen Platz im Titel des Buches finden können: „Tau liegt auf dem Sanddorn. Maline hört das vertraute Geräusch der Brandung und Möwenschreie, als sie aus der Tür tritt.“ Oder: „Maline steigt aus dem Auto und blickt sich um. Ihr ist, als ob hinter den Sanddornsträuchern ein Rascheln wäre.“

Was verbirgt sich hinter der Erwähnung dieser Pflanze? Wohl auch, dass sie vor tausenden von Jahren aus Asien in unsere Breiten kam, u. a. einen Platz in der germanischen Mythologie fand, aber ebenso in anderen Teilen der Welt Bedeutung erlangte, und jetzt dort wie hier dazugehört, als wäre sie schon immer dagewesen. Sie ist eine Konstante im Wechsel. Was für ein schönes Gleichnis!

 

Peter Hoffmann

 

 

Renate Sattler. Das Muschelgewand

Verlag Edition AV

ISBN: 978-3-86841-2512

300 Seiten, Broschur, 18,00 EUR

 

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